Den Kern des Menschen berühren1

Zu einigen Schlüsselwerken und -momenten in Josef Felix Müllers künstlerischem Schaffen

Atleiersituation, 2023. Foto: Stefan Rohner

«Haben wir aber mit dem ganzen Menschen in uns Kontakt, dann gibt es nichts Fremdes mehr.» Erich Fromm2

Im Laufe des Jahres 1979 malt der 24-jährige Stickereientwerfer Josef Felix Müller hundert Bilder auf drei Leinwände. Von den hundert Bildern bleiben einzig drei und das jeweils letzte birgt unter sich bis zu 46 für immer dem Blick entzogene Gemälde. Die Rückenfigur, die als Schlussmotiv bleibt, blickt in einem Moment der Stille in die Tiefe eines forcierten Reifeprozesses, aus dem der Maler und Künstler Josef Felix Müller hervorgegangen ist. Die Bildzustände hält er fotografisch fest – dies und drei Leinwände, dick wie Elefantenhäute, sind die einzige Spur, die von ihnen bleibt. 

Diese Fotodokumentation zeigt Josef Felix Müller Jean-Christophe Ammann, dem damaligen Leiter der Kunsthalle Basel, der sich sofort für den ungeheuren Impetus des jungen Künstlers begeistert. Müller hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen mit seiner 1980 eröffneten St. Galerie in St. Gallen gemacht, ein Raum mit zwei Schaufenstern, wo er die damals aufstrebenden Schweizer Künstlerinnen und Künstler zeigt und ein dichtes Netzwerk an Bekanntschaften knüpfen kann. Sie begründet sein lebenslanges Engagement für die Kunstvermittlung. Kurze Zeit später, im Frühjahr 1981, wird er von Gastkurator Patrick Frey in die legendäre Ausstellung «Bilder» im Kunstmuseum Winterthur eingeladen, die eine erste umfassende Übersicht über die junge, zu neuen Ufern aufbrechende Schweizer Kunstszene bietet. Einige Monate später entstehen jene Bilder, die Müller auch international schlagartig bekannt machen: An der Ausstellung Fri Art’81 in Fribourg3 malt er in einem Raum des ehemaligen Priesterseminars in drei Nächten drei Bilder, die wegen Blasphemie und Pornografie beschlagnahmt werden und zu einem Gerichtsfall führen, der nach mehreren Jahren und Instanzen 1988 bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangt4. Der Skandal spornt ihn an, den verborgenen Hintergründen der Vorwürfe nachzugehen, und innert kurzer Zeit entwickelt er eine Bildwelt, die in der Kunst jener Zeit eine einzigartige Stellung einnimmt. Zwar fügt sich sein Werk in die internationale Bewegung der «heftigen Malerei» ein. Abgesehen von der Schonungslosigkeit des Ausdrucks hebt es sich jedoch sowohl in den Inhalten wie in der formalen Gestaltung von dieser ab. Die Menschen in seinen Bildern – vorwiegend Männer – sind in archaisch anmutende, oft sexuelle, teilweise auch gewalttätige Rituale versunken. Kahlköpfig und ohne jedes individuelle Kennzeichen, in einer eher kühlen, distanzierten Malweise gefasst, aber in Lebensgrösse begegnen sie dem Betrachter. Sexualität, Gewalt sowie Geburt und Tod prägen die geheimen Aktivitäten, die meist im Dunkeln oder beim Licht eines Feuers stattfinden. Manche Bilder sind von einer sakralen Feierlichkeit geprägt, andere wirken orgiastisch. Doch scheint diesen Orgien oft die freudvolle, dionysische Lust zu fehlen, vielmehr wirken die Männer ihren Trieben und dem kollektiven Handeln zwanghaft ergeben. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier, meist Hunden, verwischen ebenso wie jene zwischen Handelnden und Opfern. Es entlädt sich in diesen Bildern ein jahrhundertealter Konflikt zwischen Geist und Körper als Ausbruch der durch Unterdrückung gequälten und zur Gewalttätigkeit pervertierten Triebe. Josef Felix Müller verbildlicht in diesen Werken den tiefgreifenden Konflikt in einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs, in dem die Abwendung von Ritualen – ob religiös oder profan – Freiheit verspricht, zugleich aber althergebrachte moralische Vorstellungen weiterwirken, die den Körper und insbesondere die Sexualität mit Unreinheit und Schuld verknüpfen. Zugleich offenbart sich in den Gemälden die Erinnerung an und vielleicht auch eine Sehnsucht nach der kultischen Verbindung mit den Urkräften der Natur, wie sie beispielsweise in der römischen Antike in den Bacchanalien gefeiert wurden.

1.

Nach Jörg Zutter, Der Mensch als Opfer. Polarität von Körper und Geist, Leben und Tod, in: Josef Felix Müller. Skulpturen/Sculptures, Katalog Museum für Gegenwartskunst, Basel, 1985, S. 30.

2.

Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie. Ullstein, Berlin 2005, S. 92.

3.

Die Ausstellung mit 36 Künstlerinnen und Künstlern fand auf Initiative des Schweizer Kurators Michel Ritter und einem Organisationsteam im gesamten Gebäude des ehemaligen Priesterseminars vom 21. August bis 18. Oktober 1981 statt.

4.

Während die Busse, die von Fribourg dem Maler und dem Organisationsteam verhängt worden war, als rechtmässig erachtet wurde, beurteilte die Kommission die Konfiszierung als unverhältnismässig und als Verstoss gegen die Meinungsfreiheit. Obwohl der Prozess im Mai 1988 nicht mit einer Verurteilung der Schweiz endete, schrieb das Urteil Rechtsgeschichte. Es war das erste Urteil des EGMR, in dem die Freiheit der Kunst unter dem Übertitel der Meinungsfreiheit explizit geschützt wurde – als solches wird es bis heute als Referenz in Literatur und Rechtsprechung angegeben. Vgl. Etrit Hasler, Müller contre Suisse. Der Phall Fribourg und seine (Nicht-) Folgen, in: Wochenzeitung, Nr. 23, 8.6.2017. Abgerufen von https://www.woz.ch/1723/mueller-contre-suisse/der-phall-fribourg-und-seine-nicht-folgen

Josef Felix Müller, Drei Nächte drei Bilder, 1981. Ausstellungsansicht Kunsthalle Friart Fribourg, 2021.

Skulptur und Druckgrafik

Ab 1982 setzt, in fruchtbarer Parallele zum Holzschnitt und der Entwicklung eines umfassenden und vielfältigen grafischen Werks, die Auseinandersetzung mit Skulptur ein, die ab 1984 für mehrere Jahre zum zentralen Ausdrucksmittel Josef Felix Müllers wird. Nach ersten Versuchen in Stein konzentriert er sich auf das lebendige Material Holz, das er mit Kettensäge und Axt direkt und ohne Vorzeichnung oder Modell bearbeitet und farbig bemalt. Der Schaffensprozess vereinigt sich mit dem Motiv. Wenn Müller die Motorsäge in den Stamm versenkt, ist der Schnitt ins Holz zugleich Wunde im Fleisch der Figur. So expressiv und spontan die Skulpturen wirken, so hochkonzentriert muss der Arbeitsprozess sein. Mit Schlüsselwerken wie dem zweigeschlechtlichen «Felix» 1983 oder der «Mutter» 1985 begegnen den Betrachtenden schonungslos die Urkräfte des Lebens und des Todes. «Felix» präsentiert exemplarisch eines der frühen Leitmotive in der doppelten Verdrehung der räumlichen Orientierung und der Fragmentierung des Körpers sowie in der prekären Balance, in der die nach oben gestreckten Füsse den abgeschlagenen Kopf tragen, als Sinnbild für die klaffende Distanz zwischen Geist und Physis. Die überwältigende Präsenz des Eros im erregten Geschlecht – sowohl männlich wie weiblich – scheint Thanatos zu überwinden. Die ganze existenzielle Überwältigung einer Geburt bricht in der Skulptur «Mutter» hervor. Aus dem mächtigen Leib einer aufrecht stehenden, vielbrüstigen Frauenfigur stürzt ein erwachsener Jüngling mit erigiertem Glied, während sie einen geköpften Tierkadaver wie eine Opfergabe in die Höhe streckt. Der Mythos von Geburt und Tod, der ewige Kreislauf der Natur sind in dieser archaischen Figurengruppe erfasst. 

Für Müllers künstlerischen und biografischen Weg sind die Jahre 1984 und 1985 wegweisend. Auf Einladung von verschiedenen Institutionen verbringt er fast ein ganzes Jahr mit seiner Frau Monika und der Tochter Vera Ida in Frankreich und arbeitet insbesondere an seinem druckgrafischen Werk5. Kurz nach der Rückkehr kann er 1985 im Museum für Gegenwartskunst in Basel und in vier weiteren Museen in Deutschland und Frankreich seine ersten Skulpturen in einer Einzelausstellung zeigen, die ihm den internationalen Durchbruch bringt6. Zu Beginn desselben Jahres gründet er den Vexer Verlag und ist Mitinitiator der Kunsthalle in St. Gallen. Ebenfalls 1985 realisiert er sein erstes Kunst-am-Bau-Werk. In der Skulpturengruppe für die Abdankungskapelle im Friedhof Feldli in St. Gallen tritt eine Dimension in seinem Schaffen zutage, die von Anfang an immanent vorhanden, jedoch durch die sexuellen Motive überdeckt war. Erschien der Mensch in den bisherigen Werken auch in der Gruppe oft einsam in seinen Trieben gefangen, wird er hier in die Gemeinschaft der drei Menschensäulen aufgenommen. Diese Skulptur ist von gegenseitiger Zuwendung geprägt, das Emotionale und Fürsorgliche überwindet das Triebhafte und Zerstörerische. Ausdrucksträger ist auch hier der Körper. Jeder Mensch, Kind und Erwachsener, steht auf den Schultern eines andern und trägt seinerseits den nächsten. In einer Art Übergeschlechtlichkeit wird zwischen Mann und Frau nicht unterschieden. Sie sind vereint im Aufstieg zum Licht, das von oben hereinfällt. 

5.

Les Sables d’Olonne, URDLA Lyon, Fontevraud und Einladung der Lausanner Galerie Rivolta nach Paris.

6.

Die Ausstellung wurde bis 1987 in der Städtischen Galerie Erlangen, dem Kunstverein Ingolstadt, der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig in Aachen und im Musée Sainte-Croix in Poitiers gezeigt.

Anatomie der Befindlichkeit

Im skulpturalen Schaffen kündigt sich damit eine Wende an, weg von Gruppen hin zu Einzel- oder Zweierfiguren, die allein stehen oder sich aneinanderklammern. Noch immer vermitteln diese Menschenfiguren ein Gefühl des Ausgesetztseins und der Verlorenheit, zusätzlich verstärkt durch den Verzicht auf farbige Bemalung und das nun nackte Holz. Statt des Animalischen tritt das Seelische stärker ans Licht. Diese Entwicklung widerspiegelt sich auch in der Druckgrafik, wo der Künstler mit der Werkgruppe «Tasten durch den feinen Nebel der Sinnlichkeit» im Jahr 1987 ebenfalls ein Schlüsselwerk schafft. Die vier Werke schneidet er direkt in die Holzböden seines Ateliers, die Abzüge werden mithilfe von Urban Stoob7 und zahlreichen Freunden und Freundinnen gezogen, die das Papier mit ihren Füssen auf die riesigen Druckstöcke pressen. Ohne Sentimentalität schafft es der Bildhauer, in seinen Figuren zugleich existenzielle Not und tröstende Zuwendung zum Ausdruck zu bringen. Diese kann auch räumliche Distanz überwinden – wie in der Skulpturengruppe an der Universität St. Gallen, die 1988 im Neubau der Bibliothek von Bruno Gerosa über zwei Stockwerke miteinander korrespondiert. Der Sturm der ersten Schaffensphase besänftigt sich, die Werke vermitteln weniger die dunklen Abgründe als vielmehr die Einsamkeit, wie sie in der Doppelfigur erfahrbar wird, wo Mann und Frau, mit dem Rücken verwachsen, sich nie von Angesicht zu Angesicht begegnen können. Ein gesteigertes Bewusstsein um die Gefährdung der Natur und der menschlichen Existenz, die dieses Jahrzehnt durch Erfahrungen wie das Reaktorunglück in Tschernobyl oder das Waldsterben prägen, mag sich in der prekären Balance der Figur auf der Kugel manifestieren, die man als Erde lesen kann. Mit dem Mauerfall 1989, der deutschen Wiedervereinigung 1990 und dem Ende des Kalten Krieges startet das letzte Jahrzehnt des Jahrtausends voller Hoffnung auf eine Zeitenwende. Für Josef Felix Müller bringt es 1991 einen einjährigen Aufenthalt in Berlin als Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, DAAD. In der Stadt herrscht Aufbruchstimmung, die auch den Künstler aus der Schweiz erfasst.

Mit der Wandlung, die sich schon Ende der 1980er abzeichnete, geht eine unversehrtere Oberfläche der Skulptur einher. Die tiefen Schnitte und Kerben der Motorsäge glätten und die Wunden schliessen sich. Parallel zu dieser Entwicklung im dreidimensionalen Schaffen wandert der Blick des Malers zur Körperhülle, zur Haut als jene Membran, die zugleich das Innere schützt und als grösstes Sinnesorgan Mittlerin zwischen aussen und innen, zwischen körperlicher und emotionaler Empfindung ist. In Fragmenten des Körpers, vorwiegend der Bauchpartie, sucht er, die Eigenschaft der Haut, zugleich umhüllend und durchlässig zu sein, malerisch zu erfassen. In unzähligen lasierenden Farbschichten erzeugt er jenes innere Leuchten, das lebendige, atmende Haut kennzeichnet.

Mit einer Gruppe von Frauenfiguren, die Mitte der 1990er im Zusammenhang eines Ausstellungsprojekts mit Kunstgeschichtsstudenten und -studentinnen in Giessen entstehen, findet der Künstler zu einer geradezu klassisch anmutenden Form8. Die weiblichen Körper sind partiell umhüllt, der Stoff dient zugleich als Stütze oder integrierter Sockel für die stehenden Figuren. Die Frauen ruhen in sich selbst, die meisten stehen mit geschlossenen Augen in entspannter und zugleich selbstsicherer Haltung. Die Position ihrer Arme und Hände wirkt nicht schamhaft wie zehn Jahre zuvor, sondern in aller Selbstverständlichkeit sich selbst zugewandt.

7.

Urban Stoob arbeitete von 1970 bis 1989 als Steindrucker in der Erker-Presse St. Gallen. Daraus ging 1989 die eigene Druckerei hervor, die er bis 2014 mit seiner Frau Vreni als international tätige Werkstatt für Lithografie führte.

8.

Kunstgeschichtliches Seminar der Justus-Liebig-Universität Giessen, Kunstverein Giessen. Vgl. Marcel Baumgartner (Hrsg.), Josef Felix Müller – frühe Bilder, neue Skulpturen, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 1996.

Josef Felix Müller, Tasten durch den feinen Nebel der Sinnlichkeit, Holzschnitte auf Riemenparkett im Atelier des Künstlers, 1987. Foto: Thomas Peretti. Courtesy of the artist.

Mensch und Natur

Kurz vor der Jahrtausendwende geschieht eine radikale Umorientierung und die menschliche Figur verschwindet für einige Zeit fast gänzlich aus der Bildwelt Josef Felix Müllers. Er wendet sich der Natur, dem «Erdkörper»9 und wieder der Malerei zu. Zunächst malt er majestätische Gebirgsketten nach gefundenen Luftaufnahmen. Diesen Blick von oben auf die Berge, die ihm wie «gigantische Skulpturen»10 erscheinen, konnten die grossen Schweizer Gebirgsmaler wie Giovanni Segantini oder Ferdinand Hodler nie gewinnen. Trotzdem gibt es Berührungspunkte zwischen den Malern. Der modellierende Pinselstrich steigert die plastische Gegenwart des Motivs. Die symbolisch aufgeladenen, erhabenen Berglandschaften Segantinis stehen ebenso Pate wie die Plastizität von Hodlers späten Berggipfeln und deren überraschende Ähnlichkeit mit seinen Selbstporträts aus der gleichen Zeit. Zum Erhabenen gesellt sich bei Müller die subjektive Empfindung im freien Umgang mit den fotografischen Vorlagen. «Wenn ich Lust habe, kann ich es einfach schneien lassen», sagt er in einem Interview11. In den folgenden Werken wandert sein Blick aus der Himmelsweite in horizontlose Nahsicht. Er fotografiert nun selbst auf Wanderungen und Streifzügen durch Wald und Feld und baut ein thematisch strukturiertes Fotoarchiv auf, aus dem nicht nur Vorlagen für Gemälde gewonnen werden, sondern vermehrt auch eigenständige fotografische Installationen hervorgehen. Die Motive sind Quellen und Wasserläufe, Blicke aus dem Dickicht zum Licht oder der eigene Garten, den er als lebendige Skulptur begreift. Manche Motive fasst er in thematische Zyklen wie «Feuer», «Spiegelung» oder «Lichträume» zusammen. Die Schöpfung dieser Gemälde steht in diametralem Gegensatz zum Frühwerk. Hatte er damals oft in wenigen Stunden mit schnell trocknender, wenig pastoser Dispersion und in groben, aber zugleich klar strukturierten Pinselstrichen grossformatige Bilder auf die Leinwand geschleudert, ist nun der Malprozess von einer extremen Verlangsamung und Dehnung der Zeit geprägt. In monatelanger Arbeit trägt er Schicht um Schicht, Pinselstrich um Pinselstrich auf. Die Beziehung der Malerei zum Motiv kann sich bis zu abstrakter Unabhängigkeit lockern. Es sind Bilder verdichteter Zeit und einer kontemplativen Betrachtung der Natur und ihrer in Malerei erfassten Essenz. Der Blick nach aussen führt über die Gemälde zurück ins Innere des in Betrachtung versunkenen Menschen. 

9.

Samuel Herzog, Ein Gespräch mit Josef Felix Müller über seine neuen Alpen-Bilder, Katalog Deweer Art Gallery, 2002, S. 10.

10.

Ebd.

11.

Ebd.

Kunst und Architektur

Eine Rückkehr zur menschlichen Gestalt vollzieht sich 2009 bis 2015 für den Erweiterungsbau des Stadtmuseums in Aarau von Diener & Diener. Für diesen Bau muss ein über 130-jähriger Mammutbaum gefällt werden. Die Architekten laden Josef Felix Müller dazu ein, für die Fassade eine künstlerische Gestaltung zu entwickeln, die diesen Baum miteinbezieht. 134 lebensgrosse «Menschenbilder» schneidet der Künstler in die aus dem Baumstamm gewonnenen Tafeln, aus denen die Betonplatten für die Fassade geschaffen werden.12 Als Vorlage dienen kleinste Zeichnungen, die er von wartenden Menschen in Bahnhöfen, an Bushaltestellen oder im Flughafen in schnellem Strich skizziert hat. Es entstehen 134 ganzfigurige Porträts, ein monumentales Bildnis der heutigen Gesellschaft. Die im bisherigen Werk von Müller aussergewöhnliche Individualität und Alltäglichkeit der Figuren schafft einen Bezug sowohl zur Stadt und ihrer Bevölkerung wie auch zum Inhalt des Stadtmuseums. Die Porträts empfangen die Herantretenden als ihresgleichen auf dem Schlossplatz und widerspiegeln die Geschichte und Geschichten der Menschen von heute und früher, welche das Museum im Inneren erzählt und bewahrt.13

12.

Die 134 je 200 cm × 95 cm grossen Holzreliefs wurden als Negativformen in Kunststoff abgegossen. Die Negativmatrizen wurden anschliessend im Betonwerk in die Schalungen gelegt und als Gussformen für die Betonplatten der rund 12 mal 25 Meter grossen Fassade verwendet. Die Strukturen des Holzes bleiben sichtbar. Die Platten wurden zusätzlich in drei Helligkeitsgraden mit Stein-Pigment-Farbe lasiert. Vgl. Beat Wismer, Josef Felix Müller: Menschenbilder, in: Stadtmuseum Aarau, Kunst und Bau Nr. 3, Vexer Verlag, St. Gallen, 2015.

13.

Vgl. Kaba Rössler, Von der Burg zum Stadtmuseum, vom Megalithbau zum Monolith, in: wie Fussnote 7.

Ateliersituation, im Hintergrund Holzdruckplatten für den Erweiterungsbau des Stadtmuseums in Aarau von Diener & Diener, 2014. Foto: Stefan Rohner

Dieses monumentale Werk reiht sich in einen neuen Schaffensbereich ein, der sich aus der Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Diener & Diener aus Basel entwickelt hat. An bisher fünf Bauprojekten wurde Josef Felix Müller von den Architekten zur Mitwirkung eingeladen. So gestaltet er 2008 bis 2015 die Holzfassaden zweier Mehrfamilienhäuser in Champfèr mit einer ornamentalen Fräsung, die an Scherenschnitte von Henri Matisse erinnert, deren formale Inspiration jedoch in Frassspuren von Insekten im Holz zu finden ist. Ornamental wirkt auch der jüngste künstlerische Beitrag «Säulen für ein Haus» für die Fassade eines Wohngebäudes in Basel. Müller entwirft eine lange, in Holz gedrechselte Säule, die in wechselnden Abschnitten als Vorlage für die in Zement gegossenen Stützen dient. Die weiss leuchtenden Säulen rhythmisieren die Fensterbänder und geben dem Gebäude eine gewisse Eleganz, die es aus der eher gesichtslosen Häuserzeile hervorhebt. In einer Wohnüberbauung von Diener & Diener im Richti-Areal in Wallisellen schiebt sich ein als Trockenmauer aus Naturstein gebauter Fries zwischen das Sockelgeschoss mit Ladenlokalen und die darüber liegenden Wohngeschosse. So findet sich ein Element historischer Landschaftsgestaltung und bäuerlicher Kultur im urbanen Kontext wieder. Eine Verbindung von innen und aussen schafft Josef Felix Müller im Gartensaal des Zürcher Kongresshauses, dessen Gesamterneuerung 2017 bis 2021 von Diener & Diener und Elisabeth und Martin Boesch ausgeführt wird. Für die 110 lamellenförmigen Öffnungen in der Blende vor der Glasfassade wählt der Künstler Farben für die Glasscheiben aus. Farbige Lichtstimmungen spielen je nach Tageszeit ins Innere oder strahlen nach aussen.

Diese Projekte gehen weit über eine traditionelle Kunst-am-Bau-Dimension hinaus und zeigen eine Idee der Zusammenarbeit zwischen Künstler und Architekt, welche die Grenze zwischen Kunstwerk und Architektur durchlässig macht. Kunst ist nicht mehr hinzugefügter «Schmuck», sondern integraler Bestandteil der Bauwerke. Dies setzt eine Offenheit beider Seiten voraus, die selten zu finden ist.

Diese Art der Offenheit ist in Josef Felix Müllers Schaffen fundamental und in unterschiedlichen Aspekten zu finden. Die Durchlässigkeit realer und mentaler Grenzen erklärt die Selbstverständlichkeit, mit der die eigene künstlerische Arbeit und die vermittelnden und kulturpolitischen Aktivitäten untrennbar ineinander verwoben sind. Dieses Zusammenwirken bestimmt eine Künstlerpersönlichkeit, die Kunst als lebensnotwendige Grundlage der Gesellschaft und des Individuums betrachtet, sei es als schonungsloser Spiegel, als Instrument zur Erkenntnis oder als Anstoss für Wandel.

Corinne Schatz, Sommer 2024

12.

Die 134 je 200 cm × 95 cm grossen Holzreliefs wurden als Negativformen in Kunststoff abgegossen. Die Negativmatrizen wurden anschliessend im Betonwerk in die Schalungen gelegt und als Gussformen für die Betonplatten der rund 12 mal 25 Meter grossen Fassade verwendet. Die Strukturen des Holzes bleiben sichtbar. Die Platten wurden zusätzlich in drei Helligkeitsgraden mit Stein-Pigment-Farbe lasiert. Vgl. Beat Wismer, Josef Felix Müller: Menschenbilder, in: Stadtmuseum Aarau, Kunst und Bau Nr. 3, Vexer Verlag, St. Gallen, 2015.

13.

Vgl. Kaba Rössler, Von der Burg zum Stadtmuseum, vom Megalithbau zum Monolith, in: wie Fussnote 7.

Ateliersituation, 2023. Foto: Stefan Rohner